„Over the Alps On A Bicycle“ von Elizabeth Pennell
Ein etwas anderer Reiseführer: „Over the Alps On A Bicycle“ aus dem Jahr 1898 führte uns zu unseren Unterkünften.Fotos: Sanne Moritz
Reisen Mountainbiken Gesellschaft

Die erste Mountainbikerin

Seit es Fahrräder gibt, zieht es die Menschen damit in die Berge. Eine der ersten von ihnen war Elizabeth Robins Pennell.

Die Amerikanerin überquerte mit dem Fahrrad die Alpen – im Jahr 1898. Ihre Spuren führen nicht nur zu einer vergessenen Vergangenheit unseres Sports, sondern auch zu fantastischen Singletrails.

Es heißt, Mountainbiken sei ein sehr junger Sport. Jeder kennt die Geschichte der Hippies im Kalifornien der 70er Jahre, die mit ihren Klunkern die Berge hinunter rasten und so das Mountainbiken erfanden. Ein Schöpfungsmythos, der bis heute die Wahrnehmung des Sports prägt: das rebellische, unangepasste, kamikazemäßige und halsbrecherische Klischee haftet Bikern an. Umso verdutzter war ich, als ich das erste Mal von Elizabeth Pennell las. „Over the Alps on a Bicycle“ lautet der nüchterne Titel ihres Buches, in dem sie das Abenteuer ihrer Alpenüberquerung schildert. Plötzlich gesellt sich ein ganz neues Bild zu den coolen, langhaarigen, Gras rauchenden, männlichen Hippies in meinem Mountainbiker-Selbstverständnis: Eine Frau in langem, wehendem viktorianischen Kleid mit bauschigen Puffärmeln, zugeknöpft bis ans Kinn, gerade dabei, eine holprige Passstraße hinunter zu schießen.

„Gewidmet dem Alpenverein, den ich darauf hinweisen möchte, dass es eine weitaus angenehmere Art und Weise gibt, Berge zu überqueren“ heißt es auf der ersten Seite. In hochgestochenem Englisch des 19. Jahrhunderts schildert die Autorin auf so humorvolle Weise ihre Abenteuer, dass ich mehrmals beim Lesen laut lachen muss. In ihrem Buch, 1898 erschienen, schildert sie ihre Reise von Dijon nach Luzern. Gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem Illustrator Robert Pennell überquerte sie dabei zehn der großen Alpenpässe. Wie kann es sein, dass ich noch nie von diesem Teil der Radgeschichte gehört habe? Und was zog eine Frau mit dem Rad in die Alpen, in einer Zeit, in der sie weder Knöchel noch Handgelenke in der Öffentlichkeit zeigen durfte? Elizabeths Bericht ist wie ein Fenster zu den vergessenen Wurzeln unseres Sports, die kennenzulernen sich als mehr als lohnend erweisen sollte.

Wer war Elizabeth?

Elizabeth Pennell ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung von „Over the Alps on Bicycle“ bereits keine Unbekannte mehr. Sie hat sich einen Namen als Schriftstellerin, Kunst- und Restaurantkritikerin gemacht, verkehrt in ihrer Wahlheimat London in den Künstler- und Intellektuellen-Kreisen und ist darüber hinaus berühmt für eine umfangreiche Kochbuchsammlung. Ihre eigentliche Leidenschaft aber gilt dem Fahrradfahren:

Es gibt keine größere körperliche Freude als die, mit guter Geschwindigkeit und aus eigener Anstrengung heraus eine Straße entlang zu fahren
Elizabeth Robins Pennell über das Radfahren

Mit ihrem Mann hat sie bereits mehrere Reisen auf dem Rad unternommen, nach Italien und Osteuropa, ihre Berichte darüber werden zu Beststellern. Kein Wunder, das Fahrrad erlebt gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen regelrechten Boom. Jeder fuhr Rad – vom einfachen Arbeiter bis zum reichen Bürger, an jeder Ecke gab es Reparatur Läden, eine Infrastruktur, die später das dichte Tankstellennetz überhaupt erst möglich machte.

Elizabeth Robins Pennell
Elizabeth Robins Pennell (wikimedia.org)

Eine der bedeutendsten sozialen Konsequenzen der Erfolgsgeschichte des Fahrrads war die Emanzipation der Frauen: das Fahrrad bedeutete für sie eine nie dagewesene Unabhängigkeit. Und da es sich schlecht mit langem Rock und Korsett in die Pedale treten lässt, ist es zu einem großen Teil dem Rad geschuldet, dass die Frauen begannen, sich gegen die rigide viktorianische Kleiderordnung zu wehren.

Doch schon damals war das Fahrrad mehr als nur ein Fortbewegungsmittel. Elizabeths Reise macht das mehr als deutlich: sie bewegte sich zwar ausschließlich auf den teilweise von Napoleon gut ausgebauten Passstraßen, diese erinnerten jedoch noch lange nicht an asphaltierten Straßen. Staub, Schlamm, Schlaglöcher und unwegsames Gelände waren im Gebirge an der Tagesordnung. Und so ist es auch für Elizabeth ein Stückweit der Nervenkitzel, der sie in die Berge ruft. Ihre ersten Fahrversuche auf den holprigen Pisten entpuppen sich als Herausforderung: „Am Anfang fiel es mir schwer, ich landete im Straßengraben und in den Büschen. Aber nach einem halben dutzend Kurven (…) gelang es mir, immer früher einzulenken und hatte schließlich den Dreh raus.“ Und an Aufgeben ist, selbst am Punkt der größten Erschöpfung, nicht zu denken: „Selbst wenn man mir eine Kutsche mit Sechsergespann zur Verfügung gestellt hätte, ich hätte mich geweigert, einzusteigen.“

Historischer Tech-Talk

Elizabeth fuhr ein Fahrrad der Marke Rover, ein sogenanntes Safety Cycle. Anders als die damals geläufigen Hochräder mit ihrem überdimensionierten Vorderrad verfügten diese erstmals über zwei gleichgroße Räder, was die häufigen und gefährlichen Stürze über den Lenker verhindern sollte. Was damals noch niemand wusste – und von der Fahrrad-Industrie viel zu spät erkannt wurde - ist die Durchsetzungskraft des neumodischen Rahmens. Heute erinnern selbst unsere modernen Mountainbikes noch an den diamantförmigen Rahmen der Marke Rover und stehen damit in einer direkten Entwicklungslinie zu dem Modell, mit dem die Pennells vor 118 Jahren durch die Alpen kurvten. Elizabeths Rad wog um die 14 Kilogramm, hatte einen Gang und wahrscheinlich keinen Freilauf. Neuster Standard und ihr ganzer Stolz: eine „pneumatische Bremse“, eine kleine Sensation an den bislang nur durch Blockieren der Kurbelarme zu bremsenden Zweirädern. So kam es, dass die beiden die Anstiege überwiegend schoben und bei den Abfahrten den Bremshebel mit einem Lederriemen am Lenker fixierten, um die Hände zu entlasten. Ihre pneumatische Bremsen werden überall neugierig beäugt: auf dem Gotthard-Pass von einem Deutschen, der dieser neuen Technik nicht traut und sich zum Verzögern lieber ein Holzpaddel ans Fahrrad schnürt – und sich damit eine spöttische Beschreibung in Elizabeths Werk sichert, die es nicht verpasst, ausgiebig über die verschrobenen Deutschen und ihre Besserwisserei in technischen Fragen herzuziehen. Aber auch die Amerikaner bekommen ihr Fett weg: Elizabeth erkennt diese stets von weiten an ihren Rädern, „die immer damit beworben werden, die besten der Welt zu sein – obwohl sie es nicht sind“.

Singletrail-Tips von Ur-Ur-Großmutter

Ich bin überzeugt: wenn Elizabeth heute leben würde, wäre sie Mountainbikerin. Ihr Buch liest sich fast genau so wie ein Reisebericht von heute. Ausführlich beschreibt sie die Schönheit der Natur, kommentiert detailliert die Beschaffenheit der Wege und verliert sich in Schwärmereien über das Fahren selbst:

Ich ließ mein Fahrrad schneller als je zuvor fahren (…). Die ganze Abfahrt war so schnell vorbei, dass ich sie nur als einen einzigen Flug wahrnahm, durch Berge, die sich mit Lichtgeschwindigkeit veränderten.

All das klingt so vertraut, als würde eine Freundin von ihrem letzten Trip in die Alpen berichten. Selbst das Kopfschütteln über die Absurditäten der aktuellen gesellschaftlichen Trends fehlt nicht: so schimpft sie über die neue Mode unter Reisenden, von jedem schönen Ort sogleich Postkarten verschicken zu müssen, anstatt einfach die Schönheit des Moments zu genießen. Einen Instagram-Account hätte Elizabeth heute also nicht. Dafür hat sie der Nachwelt einen detaillierten Reiseverlauf hinterlassen. Als deutlich wird, dass einige der Unterkünfte, in denen sie übernachtete, noch heute in Betrieb sind, gibt es für uns kein Halten mehr: wir brechen auf, um selbst auf den Spuren dieser Pionierin zu wandeln! Dass uns Elizabeth dabei solchen Trail-Perlen führen würde, hätten wir selbst nicht für möglich gehalten. Hier kommen drei Touren, die sich das Prädikat „zeitlos schön“ wirklich verdient haben:

1. Über den Simplonpass nach Italien

Elizabeths vierter Pass auf ihrer Reise ist der Simplonpass. An einem heißen Julitag bricht sie nach dem Frühstück aus dem von „Touristen überschwemmten“ Brig im Schweizer Wallis auf. Die Hitze, der von den vorbeifahrenden Kutschen aufgewühlte Staub und die Schlaglöcher bringen sie gleich am Anfang an den Rande eines Wutanfalls. Heute beginnt der Anstieg angenehmer: die historische, von Napoleon errichtete Passstraße, die auch Elizabeth hinaufschob, ist menschenleer. Die tonnenschweren LKWS donnern weit oberhalb auf der neuen Passstraße entlang. Erst weiter oben weicht die historische der neuen Passstraße. Sie führt vorbei an den von Napoleon gebauten Refugien, in denen die Pennells das zweite und dritte Frühstück zu sich nahmen – „Es ist unglaublich, wie viel man essen kann, wenn man einen Pass überquert“. Auf 2005 Meter Höhe erreicht man schließlich das Simplon-Hospiz, in dem Elizabeth und ihr Mann nach einem siebeneinhalbstündigen Anstieg die Nacht verbrachten. Noch heute wird man hier von Mönchen in Empfang genommen und von ihnen durch die die dunklen, etwas gruseligen Gemäuer des Hospizes zu spartanisch eingerichteten Zimmern geführt. Ob Elizabeth wohl genau in unserem saß, als sie ihre bleischweren Füße nach dem kräftezehrenden Tag beschrieb?

Parallel zur Passstraße führt nun ein historischer Säumerpfad hinunter nach Italien. Der Stockalperweg führt vorbei am alten Simplon-Hospiz, durch Simplon–Dorf, über uralte Brücken, durch lichte Fichtenwälder und schließlich in die Gondoschlucht, wo es an Wasserfällen vorbei und durch alte Militärstollen hindurch geht. Von hier sind es nur noch wenige Meter bis zur italienischen Grenze und damit zum ersten italienischen Restaurant, wo es sich bestens einkehren lässt.

Die Pennells fuhren von hier weiter Richtung Domodossola. Für eine Tagestour bietet es sich dagegen an, den Postbus zurück auf die Passhöhe zu nehmen und von hier den Stockalperweg nach Brig zu fahren. Selbst das Shutteln ist dabei irgendwie noch historisch korrekt, beschreibt Elizabeth doch einen Jugendlichen, der auf dem Simplonpass aus der Postkutsche aussteigt - mit seinem Fahrrad im Gepäck: „Das ist also die richtige Art einen Pass zu erklimmen: man kann sogar eine Kutsche mieten und sich seine Maschine nach oben fahren lassen“. Ob diese Anmerkung ironisch oder anerkennend gemeint ist, bleibt allerdings offen.

2. Gotthardmassiv: Um die Teufelsbrücke

Für Elizabeth markiert der Gotthardpass den Höhepunkt ihrer Reise. „Nirgends sonst hatte ich das Gefühl, auf den Gipfel von allem gefahren zu sein“. Mit Ausgangspunkt in Hospental starten die Pennells eine Rundtour vorbei an der Teufelsbrücke. Über eine schwindelerregende Schlucht, durch die sich ein tosender Bergbach stürzt führt noch heute die alte Teufelsbrücke. Selbst die Touristenströme von damals sind noch da. Die Lektüre von Elizabeths Bericht heilt definitiv von einer allzu überschwänglichen Alpen-Nostalgie. Früher war alles besser? Ende des 19. Jahrhunderts sind die Alpen jedenfalls bereits der gleiche Touristenmagnet wie heute, und auch die erste Mountainbikerin schimpfte bereits über Abzocke, überteuerte Preise und die Menschen überall: „Hüte dich von Touristen jeder Nation, sie sind blind und taub, laufen immer in der Mitte des Weges und wehren sich dagegen, dir auch nur einen Zoll Platz zu machen“.

Von der neuen Passstraße oberhalb der alten Teufelsbrücke zweigt noch in der ersten Galerie eine alte Militärstraße ab, die in zahlreichen Kehren bis auf 2000 Meter Höhe führt. Von hier kann man entweder direkt über einen Singletrail nach Hospental abfahren, oder dem technisch anspruchsvollen Höhenweg noch ca. 6 Kilometer folgen, um zu einer wunderschönen Trail-Abfahrt nach Realp zu gelangen.

3. Vom Grand Hotel Glacier du Rhone über den Grimselpass

Wenn es einen Ort gibt, an dem es sich wirklich in die Vergangenheit eintauchen lässt, ist es das Grand Hotel Glacier du Rhone am Fuße des Grimselpasses. Fast unverändert hat der pompöse Backsteinbau mit den roten Fensterläden die letzten hundert Jahre überstanden und ist von Modernisierungsmaßnahmen weitestgehend verschont geblieben. Ein knisterndes Kaminfeuer in der Hotellobby, urige Zimmer mit knarzenden, viel zu kurzen Betten und herabblätternder Tapete, eine längst zerfallene Kappelle und dazu ein Besitzer, der mit leuchtenden Augen von der bewegten Geschichte des Hauses erzählen kann und damit die Vergangenheit wieder lebendig werden lässt – es ist ein schaurig-schöner, magischer Ort, nicht nur für Nostalgie-Liebhaber ein absoluter Geheimtipp. Von einem der Balkone beobachtete Elizabeth mehrere Radler, wie sie den Furkapass herunterstolpern, und größte Mühe haben, ihre bremsenlosen Fahrräder zu kontrollieren. „Es amüsierte mich, dass sie sich sicher alle über das Pfund freuten, das sie ohne Bremsen einsparten. Aber mit Bremsen hätten sie mich vielleicht geschlagen, und mir das letzte freie Zimmer im Hotel weggeschnappt.“

Vom Hotel sind es noch ca. 1000 Höhenmeter bis auf den Grimselpass, und hier startet einer der vielleicht spektakulärsten Singletrail-Abfahrten der Alpen. Das Tragen über die ersten verblockten Passagen lohnt sich, denn von nun an geht es durch fast senkrechte Felswände, vorbei an gletscherblauen Stauseen „immer weiter und weiter und weiter“, bis kurz vor Guttannen.

Aus der Geschichte gelernt?

„Ich wollte herausfinden, ob ich die Alpen auf einem Fahrrad überqueren kann,“ schließt Elizabeth ihren Bericht, „ich kann es, und jede fahrradfahrende Frau, die ein gutes Rad mit starken Bremsen an beiden Rädern besitzt, die es weder bergab unkontrolliert laufen lässt noch sich bergauf völlig verausgabt, und die nicht vor harter Arbeit zurückschreckt, kann ebenso in den Genuss kommen, mit dem ich belohnt wurde.“ Und wenn eine Frau in Korsett und langem Kleid auf Fahrrad mit einem Gang es konnte, ist kaum vorstellbar, was noch alles möglich ist. Vieles hat sich seitdem verändert, Gletscher sind geschmolzen, Technik hat sich weiterentwickelt, Landes-Grenzen wurden geöffnet. Aber noch mehr ist geblieben: Die erhabene Schönheit der Alpen. Die Kraft eines eisernen Willens. Das gute Gefühl, es geschafft zu haben. Die Glücksgefühle beim Bergabfahren. Und all das haben nicht erst die Hippies aus Kalifornien erfunden.

 


Infos

Weiter lesen:

„Over The Alps On A Bicycle“ (1898) von Elizabeth Robins Pennell, Historical Collection from the British Library
Scan auf archive.org

„Bicycle. The History“ (2004) von David V. Herlihy: Sehr umfangreiches und detailliertes Werk über die Kultur- und Technik-Geschichte des Fahrrads, mit zahlreichen historischen Bildern. Absolut lesenswert!

Übernachten:

Grand Hotel Glacier du Rhone, Gletsch: Originales „Sight Sleeping“ zwischen Furka- und Grimselpass. Der Charme der Belle Epoque ist immer noch zu spüren. Die beiden Gastgeber Tobias und Mark Winkelmann führen das Grand Hotel, in dem schon Dichter und Denker einkehrten.
www.glacier-du-rhone.ch

Sust Lodge Andermatt: Übernachten in den alten Gemäuern eines Umschlagplatzes der Säumer an einem der bekanntesten Pässe der Schweiz. Die Verbindung von Alt und Neu schafft eine angenehm wohlige Atmosphäre mit einem Hauch von Romantik. Völlig up-to-date ist das Bike Angebot: die herzlichen Gastgeber Leo und Barbara sind selbst Mountainbiker und bieten Touren vom Feinstes an.
www.sust.ch

Simplon Hospiz: Von Napoleon erbaut, betreiben noch heute die Chorherren des großen St-Berhard-Orden die Herberge oben am Simplonpass. Wer hier übernachtet, tut dies mit Gottes Segen: im Erdgeschoss gibt es eine Kapelle, die Zimmer sind minimalistisch, aber geschmackvoll eingerichtet, gespeist wird gemeinsam im großen Ess-Saal. Eine große Bibliothek mit Kaminfeuer lädt zum Entspannen ein. Der Postbus hält direkt vor dem großen Eingangsportal und macht das Hospiz somit zu einem regelrechten „Trail-Retreat“ mitten im Wallis.
www.gsbernard.com

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