Cold Water Surfing auf IslandFotos: Eleonora Raggi & Nick Humphrey
Gesellschaft Surfen Snowboarden

Fire, Ice & Equality

Was hat Island mehr geprägt: Feuer oder Eis?

Auf jeden Fall Generationen von starken Frauen.
Im Wohnmobil haben zwei Freeride-Weltmeisterinnen sich zwischen exotischen Tiefschnee-Abfahrten und Cold Water Surfen im Atlantik auf ihre Spuren begeben.

Das am dünnsten besiedelte Land Europas. Eines der höchsten Pro-Kopf-Einkommen der Welt. Die größte Vulkaninsel der Erde. Ein erstaunlicher Spielplatz für Biker*innen, Surfer*innen, Snowboarder*innen. Von denen sich zwei Freeride-Weltmeisterinnen aufmachten, das Land unter die Lupe zu nehmen, das seit Jahren in Folge an der Spitze des Gleichstellungs-Index der Vereinten Nationen steht. Willkommen in Island - A Land Shaped by Women.

Als professionelle Snowboarderinnen haben die beiden Freeride-Weltmeisterinnen Anne-Flore Marxer und Aline Bock ihre ganze Karriere über hart für Gleichstellung in einer männerdominierten Sportart gekämpft.

A Land Shaped by Women ist ein motivierender Film über Sinnhaftigkeit und Gestaltungswillen. Darüber, eine Welt zu erschaffen, in der jeder und jede die Möglichkeit hat, sich frei zu entwickeln.“ schreibt das Mountainfilm Festival Graz.

Nun machten sie sich im Wohnmobil auf, um zwei Monate lang das Land zu bereisen, in dem die Geschlechter­gleich­stellung eine lange Tradition und einen besonderen Status hat. 52 Minuten Filmmaterial mit exotischen Tiefschnee­abfahrten in nordischer Szenerie und Coldwater Surfen im Arktischen Ozean sind das Ergebnis. Doch dies ist kein gewöhnlicher Surf- und Splitboard-Film, sondern eine starke, feminine Erzählung, die die Gleich­berechtigung von Frauen in ein besonderes Licht rückt.

Die zwei Monate in Island, erzählt Aline Bock, seien das Ende und einer der Höhepunkt ihres Projekts #alinevanlifeaction alinebock.de/projects/alinevanlifeaction, einer Reise im Van quer durch Europa und Nordafrika. Immer im Gepäck: Surfbrett, Bike und Snowboard. „Einer meiner Sponsoren fragte mich damals, was mein Traum sei. Ich antwortete, dass ich im Van durch Europa fahren wollte. Kreuz und quer, hin zu all den Orten, die mir etwas bedeuten oder die ich schon immer gerne besuchen wollte.“ Der Sponsor signalisierte Unterstützung und schneller als gedacht „hatte ich keine Wohnung mehr, packte mein Hab und Gut in 6 Umzugskisten und fuhr einfach drauf los.“

In Island wollten Aline Bock und Anne-Flore Marxer erkunden, wie die geschichtlichen Ereignisse die Mentalität der Frauen von heute beeinflusst haben. Islands Frauen sind faszinierend. Da ist etwa Vilborg Arna Gissurardóttir. Sie ist die erste Isländerin, die den Mount Everest bestiegen hat. Eine echte Abenteurerin, die ganz auf sich allein gestellt den Südpol erreicht hat. „Von ihr bekamen wir Tipps zur Motivation. Ich habe sie verinnerlicht und immer wieder abgerufen, wenn ich mich gerade alleine fühlte oder Angst vor etwas hatte. Sie nannte uns drei ihrer Grundsätze: Determination. Courage. The first step.“

You have to get up to live your dreams.
No one else is gonna do this for you.
And once you reach the top,
the view from there is endless opportunity.
Vilborg Arna Gissurardóttir

Vilborg muss es wissen. 2002 stand die Isländerin das erste Mal auf dem Hvannadalshnúkur, mit 2.110 m der höchste Berg ihres Landes. Sie war durchnässt, unterkühlt und hungrig. 20 Stunden dauerten Auf- und Abstieg im Nebel. Es war ihr erstes großes Outdoor-Erlebnis, die letzten Meter zurück zum Auto kroch sie vor Erschöpfung. „Dieser Tag, dieser Gipfel, das war mein erster persönlicher Erfolg seit sehr sehr langer Zeit.“ schildert sie in ihrem TED-Talk Bratislava „You snooze, you lose - in polar expedition and in life.“ youtube.com/watch?v=m2aU_l1gX2A. „Bis dahin hatte ich mich nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Wenn ich überhaupt etwas Bemerkenswertes vorzuweisen hatte, dann vielleicht, dass ich dreimal von der Schule geflogen bin - bevor ich überhaupt 18 war. Zu dieser Zeit hatte ich sehr wenig Selbstwertgefühl. Ich verstand weder das Wort ‘Ziele’ noch hatte ich Träume, was meine Zukunft anbelangte.“ Doch dieser Tag war ein Startschuss: die Bewegung draussen in der Natur ließ ihr Selbstbewusstsein wachsen. Während dieser Zeit fiel ihr ein Buch über den Südpol in die Hand. Sie war fasziniert von der Vorstellung, in die Fußstapfen von Roald Amundsen und Robert F. Scott zu treten und träumte davon, tage- und wochenlang in der endlosen Weite der Antarktis unterwegs zu sein.

I encourage you to daydream.
Because then, in your mind,
you have already started your journey.
Vilborg Arna Gissurardóttir
Vilborg Arna Gissurardóttir

Aber damals „hatte ich weder genügend Wissen, noch ausreichend Erfahrung - und nicht die leiseste Ahnung, wie ich das Geld auftreiben sollte, um überhaupt in die Antarktis zu gelangen.“ Sie träumte weiter - aber nicht nur. Fing an, sich Ziele zu stecken, absolvierte eine Ausbildung und schloss sogar ihr Studium erfolgreich ab, eine Tatsache, die ihr im Bekanntenkreis beinahe niemand zugetraut hatte. 2011 querte sie den Vatnajökull, Islands größten Gletscher. Im Mai 2012 folgte mit Grönland die Durchquerung des zweitgrößten Eiskörpers der Welt. Im November 2012 schließlich war es soweit. Sie stand an der Küste einer vereisten Bucht des westantarktischen Ellsworthlands. Nur noch 60 Tage und 1.140 km trennten sie von ihrem lange gehegten Traum, den geographischen Südpol zu erreichen. Sie realisierte ihn am 17. Januar 2013, exakt 101 Jahre nachdem der britische Marine-Offizier und Polarforscher Robert Falcon Scott den südlichsten Punkt der Erde erreicht hatte. Vilborg Arna Gissurardóttir beließ es nicht dabei, mittlerweile hat die Isländerin alle 7 Summits bestiegen.

You know, if you really want to do something, you’ll find a way.
If you don’t, you’ll find an excuse.
Vilborg Arna Gissurardóttir

Frauen in Verfassung & Fashion

Gleich nach ihrer Ankunft hatten Bock und Marxer die Möglichkeit, Katrin Oddsdóttir zu treffen. Oddsdóttir ist Menschenrechtsanwältin. Sie war eines der 25 Mitglieder der Isländischen Verfassungsgebenden Versammlung, die 2011 (als Reaktion auf die Wirtschaftskrise von 2008) eine neue Verfassung für das Land entwarf. Die Vorgehensweise der Versammlung wurde weltweit aufmerksam verfolgt, denn unter anderem kamen Netzwerke wie Facebook und Twitter zum Einsatz, um es der Bevölkerung zu ermöglichen, die Entstehung einer neuen Verfassung zu verfolgen und sich daran zu beteiligen. Die Anwältin, die seit jungen Jahren politisch aktiv ist, hat sich auf die Rechte von Kindern, Flüchtlingen und Menschen mit Behinderung spezialisiert und verfolgt als Ziel eine Gesellschaft mit mehr Gleichstellung.

Im Norden der Insel verabredeten die beiden Weltmeisterinnen sich mit einer Gleichgesinnten zum Snowboarden. Heida Birgisdóttir ist vielleicht nur einigen Insider*innen ein Begriff, aber die meisten kennen sicherlich die Marke, die sie in den 1990ern zusammen mit ihrem Businesspartner und dem Vater ihres Sohnes gründete: NIKITA. Die legendäre Boardsports-Bekleidungsmarke nur für Frauen, oder, um es im Company Jargon zu sagen: FOR GIRLS WHO RIDE. Birgisdóttir ist eine „Frau der vielen ersten Male“. Eine isländische Snowboarderin der ersten Stunde, die allererste Surferin der Insel. Und eben Gründerin der ersten Bekleidungsmarke speziell für Boarderinnen. Ihr Erfolg gibt ihr heute Recht, auch wenn sie damals in den 90ern bei vielen namhaften Herstellern mit ihrer Idee einer All Women Brand abblitzte. Noch heute bringt die mittlerweile 48-Jährige es auf über 50 Tage auf den Brettern, die die Welt bedeuten. Ihre bescheidene, entspannte Art und Leidenschaft, die Dinge zu tun, die sie liebt, erinnert Marxer und Bock daran, dass Frauen nicht unbedingt ein starkes Selbstbewusstsein zeigen müssen um große Ziele zu erreichen und ihren Träumen zu folgen. In einem Interview nach dem „coolsten Fakt über Island gefragt“ antwortet die Unternehmerin nur: „Dass wir eine gewählte Premierministerin haben.“

Die Gründerin der Marke für „Girls Who Ride“ steht heute noch etwa 50 Tage im Jahr auf den Brettern

Blutjung, offen homosexuell oder alleinerziehende Single-Frau mit adoptiertem Nachwuchs? Herzlich willkommen im höchsten Amt der Republik!

Katrín Jakobsdóttir, die amtierende (und erst 42-jährige) Premierministerin ist nämlich schon die zweite Regierungschefin an der Spitze der Parlamentarischen Republik. Von 2009 bis 2013 regierte Jóhanna Sigurðardóttir als Premierministerin Island - als erste offen homosexuelle Regierungschefin der Neuzeit. Die ehemalige Flugbegleiterin bei der Vorläuferin von IcelandAir engagierte sich bereits in der Flugbegleitergewerkschaft. Doch der Grundstein wurde schon knapp 30 Jahre früher gelegt. 1980 gewann die Theater- und Literaturwissenschaftlerin Vigdís Finnbogadóttir mit 33,8 Prozent der Stimmen die Präsidentschaftswahlen und war damit das erste weibliche demokratisch gewählte Staatsoberhaupt weltweit. Unter den Wählern war sie dennoch umstritten, und das nicht nur wegen ihres Geschlechts, sondern auch, weil sie alleinstehend war und ein Kind adoptiert hatte. Zudem hatte sie als Pazifistin offen für den Abzug der US-Streitkräfte von Island demonstriert - und das, obwohl diese einen nicht zu unterschätzenden Wirtschaftsfaktor dargestellt hatten. Doch noch stärker wurde und wird die wirtschaftliche Lage vom Markt für Fischfang und den damit verbundenen Industrien beeinflusst, 60 Prozent der Exporte gehen auf dieses Konto. Und genau aus dieser Ecke kam Zuspruch für Vigdís und ihre Anliegen, etwa das Aufforstungsprogramm für Island, die Unterstützung der Isländischen Sprache und Traditionen sowie der Bewegung für Frauenrechte.Die Seeleute wussten, dass Frauen gute Führungskräfte sein konnten (und mussten), da in diesen Gesellschaftsstrukturen die Männer oft auf hoher See und somit längere Zeit abwesend waren. Die Frauen der Kapitäne waren seit jeher die führenden Kräfte der Gesellschaft in den von der Fischerei lebenden Siedlungen.

„Es ist sehr hart, ins Wasser zu gehen, wenn es draußen schneit und die Wassertemperatur weit unter 10 Grad liegt. Aber wenn die Bedingungen so gut sind, wie an diesem Tag, dann vergisst du die Kälte. Zumindest für eine kurze Zeit. Du bist zu 100 Prozent fokussiert auf das Jetzt, auf das Meer und die Wellen. Das Adrenalin, das dich dabei durchströmt, schärft deine Sinne und macht dich stark. Erst später realisierst du, wie sehr du an deine persönlichen Grenzen gegangen bist. Dann fühlst du dich stärker als vorher. Unbesiegbar – und unglaublich hungrig.“

 

Schon 1975 war Vigdís an einem Generalstreik der Frauen beteiligt. Während die Isländerinnen für „gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ auf die Straße gingen, mussten viele Fabriken und Geschäfte schließen, ebenso Banken, Schulen und Kindergärten. 1975 waren in Island 60 Prozent der Frauen berufstätig. Zum Vergleich: In Deutschland lautet der die Arbeitsteilung der Eheleute regelnde § 1356 BGB Absatz 1 bis 01.07.1977 : „Die Frau führt den Haushalt in eigener Verantwortung. Sie ist berechtigt, erwerbstätig zu sein, soweit dies mit ihren Pflichten in Ehe und Familie vereinbar ist.“ In Island hingegen waren die meisten Arbeitsstätten des Landes lahmgelegt und die Frauen bewiesen, dass sie eine Säule der Gesellschaft waren, genau wie die Männer. „Áfram stelpur“ Vorwärts Frauen ist der Titel eines bekannten Folksongs, den die Frauen immer wieder anstimmten um sich gegenseitig zu beschwören, ihre Stimmen zu erheben. „Aber wage ich, kann ich, will ich? / Ja, ich wage es, kann und will.“ heißt es darin.

Wir analysieren gemeinsam die Gesellschaft und untersuchen, wie und warum aufgrund des Geschlechts diskriminiert wird. Mein Ziel ist es zunächst, den Schüler*innen vor Augen zu führen, dass das eine Tatsache ist. Denn nicht alle sehen das so. Sie nehmen die Realität als gegeben hin. Stereotypen zu erkennen hat sie ermutigt. Am Ende sollen sie glücklichere Menschen werden. Denn glückliche Menschen machen gute Gesellschaften.
Hanna Björg Vilhjalmsdottir (Lehrerin für Gender Studies)

Ja, wir wagen es, können und wollen.

Zu guter Letzt trafen Marxer und Bock auf Una Torfadóttir, eine 17-jährige junge Frau, die ein Gedicht geschrieben hat, das einen aufschrecken lässt. „Dear Girls“ handelt von der Art und Weise, wie unsere Gesellschaft Frauen aufgrund ihres Aussehens beurteilt. Margrét Snorradóttir, Unas Freundin seit Kindesbeinen an, wiederum gründete die feministische Vereinigung „Ronja“ und setzt sich mit dem Projekt #Ronjaferátúr ("Ronja hat ihre Periode") für eine Ent-Tabuisierung des Themas weibliche Menstruation ein. Mit ihren gerade einmal 16 Jahren finden die beiden (u.a. beim TEDx in Rejkjavik mit ihrer Performance „When Girls Take Up Space“ youtube.com/watch?v=lndQwtzVvto) klarere Worte als viele von uns erwachsenen Frauen.

…call it anything you want. We call it feminism.
Una Torfadóttir und Margrét Snorradóttir

 

Wollen die Erkenntnisse ihrer Island-Reise persönlich mit ihren Zuschauer*innen teilen: Aline Bock und Anne-Flore Marxer.

Das Fazit der beiden Filmemacherinnen nach knapp zweieinhalb Jahren Arbeit? „Während unserer Reise haben wir ermutigende Aussagen zu einigen der wichtigsten Frauenthemen der heutigen Zeit gefunden. Und wir wollen diese Erkenntnisse persönlich mit unseren Zuschauer*innen teilen. Deshalb haben wir uns auch entschlossen, eine eigene Kinotour zu absolvieren.“ Aline Bock macht am Telefon eine kurze Pause. Als sie wieder anfängt zu sprechen, merkt man ihr die Rührung an der Stimme an. „Weißt du, gestern nach dem Film kam eine junge Frau, vielleicht Anfang zwanzig auf mich zu. Sie war so motiviert und wollte unbedingt wissen, was sie denn tun könne um andere Frauen zu unterstützen. Das ist genau das, wo wir hinwollen. Dass die Frauen aufstehen und machen. Einfach machen.“

Ja, ich wage es, kann und will.

 


Der Film hat inzwischen zahlreiche Preise und Nominierungen erhalten, so z.B. den Best Short Film beim Lady Filmmakers Festival in Beverly Hills oder den Best Film dem St. Anton Film Festival.

Don't miss: Alle Termine zu den Vorstellungen von „A Land Shaped by Women“ finden sich hier:alandshapedbywomen.com/screenings/

Der Trailer zum Film

Vormerken! Am 27.11. findet vor dem Screening ein Get-Together im Blue Tomato Shop München, Thomas-Wimmer-Ring 14, 80538 München statt. Wir werden mit Bloomers vor Ort sein und freuen uns auf ein persönliches Kennenlernen oder Wiedersehen!

Stay tuned: Termine & News zum Film findet ihr auf unserer Facebook-Seite

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